Kapitel 2 - Wie ein offenes Buch
Ich lehnte mich gegen die weiche Schneewehe und das trockene Puder verformte sich unter meinem Gewicht. Mein Körper hatte sich noch weiter abgekühlt um sich der Luft um mich herum anzupassen und die kleinen Eisstücke fühlten sich wie Samt auf meiner Haut an.
Der Himmel über mir war klar, voller leuchtender Sterne, ein schimmerndes blau an einigen Stellen, gelb an anderen. Die Sterne bildeten majestätische, verschlungene Formen in dem schwarzen Universum – ein großartiger Anblick. Ungemein schön. Oder besser, sollte ungemein schön sein. Wäre es gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre es wirklich zu sehen.
Es wurde einfach nicht besser. Sechs Tage waren mittlerweile vergangen, sechs Tage versteckte ich mich bereits in der leeren Wildnis von Denali, aber ich war der Freiheit kein Stück näher gekommen seit ich zum ersten Mal ihren Duft aufgeschnappt hatte.
Wenn ich hinauf zu dem juwelenbehangenen Himmel starrte war es als wäre da eine Blockade zwischen meinen Augen und seiner Schönheit. Die Blockade war ein Gesicht, nur ein belangloses menschliches Gesicht, aber ich konnte es nicht aus meinem Kopf verbannen.
Ich hörte die sich nähernden Gedanken bevor ich die dazugehörenden Schritte hörte. Die Bewegungsgeräusche waren nur der Hauch eines Flüsterns auf dem weißen Puder.
Ich war nicht überrascht, dass Tanya mir hierher gefolgt war. Ich wusste dass sie schon einige Tage über das Gespräch das jetzt kommen würde nachgrübelte, sie schob es vor sich her, bis sie genau wusste, was sie sagen wollte.
Ungefähr sechzig Yards entfernt sprang sie in Sicht, auf die Spitze eines unter dem Schnee hervortretenden schwarzen Felsens und balancierte dort auf den Ballen ihrer nackten Füße.
Tanyas Haut war silbern im Sternenlicht und ihre langen blonden Locken leuchteten schwach, fast rosa auf ihrem Erdbeertaint. Ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten auf, als sie mich entdeckte, halb begraben unter dem Schnee, und ihre vollen Lippen umspielte ein Lächeln.
Vorzüglich. Wenn ich wirklich in der Lage gewesen wäre sie zu sehen. Ich seufzte.
Sie hockte sich auf den Felsen, ihre Fingerspitzen berührten den Stein, ihr Körper rollte sich zusammen.
Kanonenkugel, dachte sie.
Sie schoss in die Luft, ihre Umrisse wurden zu einem dunklen, verdrehten Schatten als sie zwischen mich und die Sterne sprang. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen als sie auf den aufgetürmten Schnee neben mir traf.
Ein Schneesturm erhob sich um mich herum. Die Sterne wurden schwarz und ich war begraben unter den federähnlichen eisigen Kristallen.
Ich seufzte wieder, aber machte keine Anstalten, mich aus dem Schnee zu heraus zu graben. Die Schwärze unter dem Schnee tat weder weh noch veränderte sie die Sicht. Ich sah immer noch dasselbe Gesicht.
„Edward?“
Wieder flog Schnee, als Tanya mich schnell ausgrub. Sie fegte das Pulver von meinem unbeweglichen Gesicht, darauf bedacht, meinem Blick nicht zu begegnen.
„Sorry,“ murmelte sie. „Es sollte ein Witz sein.“
„Ich weiß. Es war lustig.“
Ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten.
„Irina und Kate sagen, ich sollte dich in Ruhe lassen. Sie denken ich nerve dich.“
„Kein bisschen,“ versicherte ich ihr. „Ganz im Gegenteil, ich bin derjenige der unhöflich ist – furchtbar unhöflich. Es tut mir sehr leid.“
Du gehst wieder nach Hause, oder? Dachte sie.
„Ich hab mich… noch nicht vollkommen… entschieden.“
Aber du bleibst nicht hier. Ihre Gedanken waren jetzt wehmütig, traurig.
„Nein. Es scheint nicht wirklich… zu helfen.“
Sie zog ein Gesicht. „Das ist meine Schuld, nicht wahr?“
„Natürlich nicht,“ log ich reibungslos.
Seih kein Gentleman.
Ich lächelte.
Wegen mir fühlst du dich unwohl, klagte sie.
„Nein.“
Sie zog eine Augenbraue hoch. Ihr Gesicht war so ungläubig, dass ich lachen musste. Ein kurzes Lachen gefolgt von einem weiteren Seufzer.
„Na gut,“ gab ich zu. „Ein kleines bisschen.“
Sie seufzte auch und stütze ihr Kinn auf ihre Hände. Ihre Gedanken waren verärgert.
„Du bist tausendmal lieblicher als die Sterne, Tanya. Dessen bist du dir natürlich absolut bewusst. Lass dein Vertrauen nicht von meiner Eigensinnigkeit erschüttern.“ Ich kicherte bei dieser abwegigen Idee.
„Ich bin solche Reaktionen nicht gewöhnt,“ brummte sie und verschob ihre Unterlippe zu einem attraktiven Schmollmund.
„Natürlich nicht,“ stimmte ich ihr zu und versuchte dabei ihre Gedanken auszublenden in denen sie all die Erinnerungen an ihre abertausend Eroberungen durchging. Tanya bevorzugte Menschliche Männer – für eine Sache waren sie besonders bekannt, für die Tatsache, dass sie weich und warm waren. Und immer gierig, mit Sicherheit.
„Sukkubus,“ zog ich sie auf, in der Hoffnung die Bilder aus ihren Gedanken zu vertreiben.
Sie grinste breit. „Das Original.“
Anders als Carlisle hatten Tanya und ihre Schwestern ihr Gewissen langsam entdeckt. Am Ende war es ihr Verlangen nach menschlichen Männern, weshalb sie sich gegen das Abschlachten entschlossen haben. Jetzt… lebten die Männer die sie liebten.
„Als du hier aufgetaucht bist,“ sagte Tanya langsam. „Dachte ich…“
Ich wusste was sie gedacht hatte. Ich hätte mir denken können, dass sie so fühlen würde. Aber im Moment war ich nicht gerade gut darin überlegt zu handeln.
„Du dachtest, ich hätte meine Meinung geändert.“
„Ja.“ Sie starrte finster vor sich hin.
„Ich fühle mich schlecht weil ich mit deinen Erwartungen gespielt habe, Tanya. Das wollte ich nicht – ich hab nicht nachgedacht. Es ist nur so, dass ich… sehr plötzlich aufgebrochen bin.“
„Ich gehe davon aus, dass du mir nicht erzählen wirst, warum…?“
Ich setzte mich auf und schlang die Arme um meine Beine. „Ich möchte nicht darüber reden.“
Tanya, Irina und Kate waren gut in dem Leben, dass sie sich ausgesucht hatten. Auf manche Art sogar besser als Carlisle. Abgesehen von der verrückten unmittelbaren Nähe die sie sich zu denen erlaubten die – einmal mehr – ihre Beute sein sollten, sie machten keine Fehler. Es war mir zu peinlich meine Schwäche vor Tanya einzugestehen.
„Probleme mit Frauen?“ vermutete sie und ignorierte meine Zurückhaltung.
Ich lachte schrill. „Nicht so wie du es denkst.“
Dann war sie still. Ich lauschte ihren Gedanken, während sie verschiedene Möglichkeiten durchging bei dem Versuch den Sinn meiner Worte zu verstehen.
„Du bist nicht mal nahe dran,“ sagte ich ihr.
„Ein Tipp?“ fragte sie.
„Bitte lass es gut sein, Tanya.“
Dann war sie wieder still, immer noch am grübeln. Ich ignorierte sie, und versuchte vergeblich die Sterne wahr zu nehmen.
Nach einem Moment der Stille gab sie auf und ihre Gedanken schlugen eine andere Richtung ein.
Wohin wirst du gehen, Edward, wenn du wieder abreist? Zurück zu Carlisle?
„Ich glaube nicht,“ flüsterte ich.
Wohin würde ich gehen? Ich konnte mir keinen Ort auf dem gesamten Planeten vorstellen, der irgendetwas Interessantes für mich barg. Es gab nichts was ich sehen oder tun wollte. Denn egal wo ich hinging, ich würde nirgendwo hin gehen – ich würde immer nur vor etwas weg rennen.
Ich hasste es. Wann bin ich so ein Feigling geworden?
Tanya legte ihren schlanken Arm um meine Schultern. Ich versteifte mich, löste mich aber nicht aus dieser Umarmung. Sie bezweckte nicht mehr damit als freundschaftliche Unterstützung. Hauptsächlich.
„Ich denke du wirst zurückgehen,“ sagte sie, in ihrer Stimme lag nur noch ein Hauch ihres lange verloren gegangen russischen Akzents. „Egal was es ist… oder wer es ist… das dich verfolgt. Du wirst ihm entgegentreten. Du bist so ein Typ.“
Ihre Gedanken waren sich dessen so sicher wie ihre Worte. Ich versuchte die Vision die sie von mir hatte festzuhalten. Derjenige, der den Dingen direkt entgegentrat. Es tat gut wieder so von mir selbst zu denken. Ich hatte nie an meinem Mut gezweifelt, meiner Fähigkeit mit Schwierigkeiten fertig zu werden, vor dieser schrecklichen Stunde in dem High School Biologiekurs vor so kurzer Zeit.
Ich küsste ihre Wange; und drehte mich schnell wieder weg als sie ihr Gesicht zu meinem drehte, ihre Lippen schon gespitzt. Sie lächelte reumütig über meine Schnelligkeit.
„Danke Tanya. Das musste ich hören.“
Ihre Gedanken wurden launisch. „Gern geschehen, denke ich. Ich wünschte du würdest besser mit dir reden lassen, Edward.“
„Es tut mir leid, Tanya. Du weißt, dass du zu gut für mich bist. Es ist nur… ich hab noch nicht gefunden wonach ich suche.“
„Na gut, wenn du gehst bevor wir uns noch einmal sehen… auf Wiedersehen Edward.“
„Auf Wiedersehen Tanya.“ Als ich die Worte aussprach konnte ich es sehen. Ich konnte mich gehen sehen. Stark genug um zu dem einzigen Ort zurück zu gehen an dem ich sein wollte. „Danke nochmal.“
Mit einer flinken Bewegung sprang sie auf ihre Füße und rannte weg, geisterte so schnell über den Schnee, dass ihre Füße keine zeit hatten in den Schnee einzusinken; sie hinterließ keine Fußspuren. Sie drehte sich nicht um. Meine Reaktion störte sie mehr als sie sich hatte anmerken lassen, sogar in ihren Gedanken. Sie würde mich nicht noch einmal sehen wollen bevor ich ging.
Ich verzog ärgerlich meinen Mund. Ich mochte es nicht Tanya zu verletzen, obwohl ihre Gefühle für mich nicht tief, nicht rein waren und auf jeden Fall nichts was ich erwidern konnte. Es kam mir trotzdem so vor als wäre ich dadurch weniger ein Gentleman.
Ich legte mein Kinn auf meine Knie und schaute wieder hinauf zu den Sternen, obwohl ich es plötzlich eilig hatte mich auf den Weg zu machen. Ich wusste, dass Alice sehen würde, wie ich nach Hause kam und es den anderen erzählte. Das würde sie glücklich machen – besonders Carlisle und Esme. Aber ich blickte noch einmal hoch zu den Sternen, versuchte an dem Gesicht in meinem Kopf vorbei zusehen. Zwischen mir und den funkelnden Lichtern im Himmel starrte mir ein verwirrtes schokoladenbraunes Augenpaar entgegen. Es schien zu fragen, was diese Entscheidung für sie bedeuten würde. Natürlich konnte ich mir nicht sicher sein, dass es das war, was diese eigenartigen Augen zu wissen begehrten. Selbst in meiner Vorstellung konnte ich ihre Gedanken nicht hören. Bella Swans Augen fragten weiter und ein ungehinderter Blick zu den Sternen blieb mir verwehrt. Mit einem schweren Seufzer, gab ich auf und erhob mich. Wenn ich rannte war ich in weniger als einer Stunde bei Carlisles Auto…
Ich wollte meine Familie so schnell wie möglich wiedersehen – wollte unbedingt der Edward sein, der den Problemen ins Gesicht sah – Ich rannte über das sternenklare Schneefeld, ohne Fußspuren zu hinterlassen.
„Es wird alles gut werden,“ hauchte Alice. Ihre Augen blickten ins Leere und Jasper hielt mit einer Hand ihren Ellenbogen um sie zu führen während wir aneinandergedrängt die Cafeteria betraten. Rosalie und Emmett gingen voran, Emmett sah lächerlicherweise aus wie ein Bodyguard mitten im Feindesland. Rose sah sich auch wachsam um, aber eher irritiert als beschützend.
„Natürlich wird es das,“ grummelte ich. Ihr Verhalten war albern. Wenn ich mir nicht sicher wäre mit der Situation umgehen zu können, wäre ich zu Hause geblieben.
Die plötzliche Verlagerung von unserem normalen, sogar verspielten Vormittag – es hatte in der Nacht geschneit und Emmett und Jasper waren sich nicht zu schade um meine Zerstreuung auszunutzen um mich mit Schneebällen zu bombardieren; als ich mich nicht wehrte, waren sie gelangweilt und bombardierten sich gegenseitig – auf diese übertriebene Wachsamkeit wäre komisch gewesen, wäre es nicht so ärgerlich.
„Sie ist noch nicht hier, aber auf dem Weg den sie hereinkommt… sie wird nicht in Windrichtung sein, wenn wir an unserem Stammplatz sitzen.“
„Natürlich setzten wir uns auf unseren Stammplatz. Hör auf damit, Alice. Du gehst mir auf die Nerven. Es geht mir gut und daran wird sich nichts ändern.“
Sie blinzelte kurz als Jasper ihr auf ihren Stuhl half, und ihre Augen blickten mir endlich ins Gesicht.
„Hmm,“ sagte sie überrascht. „Ich glaube du hast recht.“
„Selbstverständlich habe ich recht,“ murmelte ich.
Ich hasste es, im Mittelpunkt ihrer Sorgen zu stehen. Plötzlich hatte ich Mitleid mit Jasper als ich mich daran erinnerte wie wir alle schützend über ihm schwebten. Er erwiderte kurz meinen Blick und grinste.
Nervig, nicht war?
Ich schnitt ihm eine Grimasse.
War es erst letzte Woche gewesen, dass dieser lange, graue Raum so tödlich stumpf auf mich gewirkt hat? Dass es sich wie Schlaf, wie ein Koma anfühlte, hier zu sein?
Heute waren meine Nerven angespannt – wie die Seiten eines Pianos, gespannt um bei der kleinsten Berührung zu singen. Meine Sinne waren in äußerster Alarmbereitschaft; ich prüfte jedes Geräusch, jeden Seufzer, jeden Lufthauch der meine Haut berührte, jeden Gedanken. Besonders die Gedanken. Es gab nur einen Sinn den ich unterdrückte. Den Geruchssinn selbstverständlich. Ich atmete nicht.
Ich erwartete mehr über die Cullens zu hören in den Gedanken die ich durchforstete. Den ganzen Tag wartete ich, suchte nach irgendeiner Erkenntnis die Bella Swan jemandem anvertraut hatte, versuchte zu sehen welche Richtung der neue Klatsch und Tratsch nehmen würde. Aber da war nichts. Niemand beachtete die fünf Vampire in der Cafeteria, es drehte sich immer noch alles um das neue Mädchen. Einige der Menschen hier dachten immer noch an sie, immer noch dieselben Gedanken wie letzte Woche. Doch anstatt es unsagbar langweilig zu finden, war ich fasziniert.
Hatte sie mit niemandem über mich gesprochen?
Es war unmöglich dass sie meinen schwarzen, mörderischen Blick nicht bemerkt hatte. Ich hatte ihre Reaktion darauf gesehen. Sicher hatte ich sie zu Tode erschreckt. Ich war überzeugt gewesen, dass sie es vor irgendwem erwähnt haben musste, vielleicht sogar ausgeschmückt hatte um die Story noch besser zu machen. Mir ein paar bedrohliche Zeilen gab.
Und dann hatte sie ja auch noch mitbekommen wie ich versucht hatte den gemeinsamen Biologiekurs zu wechseln. Sie musste sich gefragt haben, nachdem sie meinen Gesichtsausdruck gesehen hatte, ob sie der Grund dafür war. Ein normales Mädchen hätte sich umgehört, ihr Erfahrungen mit denen der anderen verglichen um Gemeinsamkeiten zu entdecken die mein Benehmen gerechtfertigt hätten, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlte. Menschen wollten unbedingt normal sein, dazugehören. Sich in ihre Umgebung einfügen wie eine nichtssagende Schafherde. Dieses Bedürfnis war bei heranwachsenden ganz besonders ausgeprägt. Dieses Mädchen würde keine Ausnahme dieser Regel sein.
Aber niemand nahm Notiz von uns wie wir hier saßen, an unserem üblichen Tisch. Bella musste außerordentlich schüchtern sein, wenn sie sich niemandem anvertraut hatte. Vielleicht hatte sie mit ihrem Vater gesprochen, möglicherweise war dies die stärkste Bindung… obwohl das unwahrscheinlich war aufgrund der Tatsache, dass sie nur sehr wenig Zeit mit ihm verbracht hatte in ihrem Leben. Sie würde ihrer Mutter näherstehen. Trotzdem sollte ich bald mal bei Chief Swan vorbeischauen und mir anhören was er dachte.
„Irgendetwas neues?“ fragte Jasper.
„Nichts. Sie… scheint kein Wort darüber verloren zu haben.“
Alle hoben eine Augenbraue bei dieser Neuigkeit.
„Vielleicht bis du ja gar nicht so gruselig wie du immer dachtest,“ sagte Emmett kichernd. „Ich wette ich hätte ihr mehr Angst einjagen können als du.“
Ich verdrehte ihm gegenüber meine Augen.
„Ich frag mich warum…?“ Er wunderte sich wieder über meine Offenbarung über die einzigartige Stille dieses Mädchens.
„Wir sind damit durch. Ich weiß es nicht.“
„Sie kommt rein,“ murmelte Alice. Ich merkte wie mein Körper sich versteifte. „Versuch menschlich auszusehen.“
„Menschlich meinst du?“ fragte Emmett.
Er hob seine rechte Faust und dreht seine Finger um den Schneeball hervorzubringen den er in seiner Handfläche versteckt hatte. Natürlich war er dort nicht geschmolzen. Er hatte ihn zu einem klumpigen Eisbrocken zusammengedrückt. Sein Blick ruhte auf Jasper aber ich sah die Richtung seiner Gedanken. Genau wie Alice. Als er den eisigen Klumpen nach ihr warf, lenkte sie ihn mit einem beiläufigen Fingerschnippen in eine andere Richtung. Das Eis flog quer durch die Cafeteria, zu schnell für menschliche Augen, und zerschmetterte mit einem lauten Krach an der Backsteinwand. Der Stein krachte auch.
Die Köpfe in der Ecke des Raumes drehten sich alle um auf den kleinen Eisklumpen auf dem Boden zu starren und sich dann nach dem Schuldigen umzusehen. Sie schauten nur ein paar Tische weiter. Niemand sah zu uns.
„Sehr menschlich, Emmett,“ kritisierte Rosalie. „Warum schlägst du nicht gleich ein Loch in die Wand, wenn du schon einmal dabei bist?“
„Es würde beeindruckender aussehen, wenn du das tun würdest, Baby.“
Ich versuchte ihnen meine Aufmerksamkeit zu schenken, grinste vor mich hin als wäre ich Teil ihres Geplänkels. Ich erlaubte mir nicht zu der Schlange zu sehen in der ich wusste, dass sie stand. Aber das war alles wo ich hinhörte.
Ich konnte Jessicas Ungeduld mit der Neuen hören, die abgelenkt schien und bewegungslos in der Reihe stand. Ich sah, in Jessicas Gedanken, dass Bella Swans Wangen wieder rot gefärbt waren von ihrem Blut.
Ich nahm kurze, flache Atemzüge, bereit sofort das Atmen einzustellen, falls auch nur ein Hauch ihres Duftes die Luft in meiner Nähe erreichen sollte.
Mike Newton war bei den beiden Mädchen. Ich hörte seine beiden Stimmen, mental und verbal, als er Jessica fragte, was mit dem Swan-Mädchen los seih. Ich mochte es nicht wie seine Gedanken sich um sie drehten, das Aufflackern bereits hergestellter Fantasien, die seinen Verstand vernebelten, während er sie beobachtete wie sie aus einer Träumerei aufblickte als hätte sie vergessen, dass er da war.
„Gar nichts,“ hörte ich Bella mit dieser leisen, klaren Stimme sagen. Es hörte sich wie das Klingeln einer Glocke an durch das Gebrabbel in der Cafeteria, aber ich wusste, dass das nur daran lag, dass ich so konzentriert zuhörte.
„Ich nehme heute nur eine Limo,“ sagte sie, während sie weiterging um zum Ende der Schlange aufzuschließen.
Ich konnte mich nicht davon abhalten ihr einen kurzen Blick zuzuwerfen. Sie starrte auf den Fußboden, das Blut schwand langsam aus ihrem Gesicht. Schnell wandte ich meinen Blick ab, zu Emmett, der jetzt über das schmerzverzerrte Lächeln in meinem Gesicht lachte.
Du siehst krank aus, Bruder.
Ich arrangierte meinen Gesichtsausdruck, damit er leicht und lässig wirkte.
Jessica wunderte sich über die Appetitlosigkeit des Mädchens. „Bist du nicht hungrig?“
„Ehrlichgesagt, ist mir im Moment ein bisschen schlecht.“ Ihre Stimme war leiser, aber immer noch sehr klar.
Warum störten mich die beschützerischen Bedenken die plötzlich von Mikes Gedanken ausstrahlten? Was machte es schon, dass da ein Besitzergreifender Ton in ihnen lag? Es war nicht meine Angelegenheit, wenn Mike Newton sich unnötigerweise um sie sorgte. Vielleicht war das die Art wie jeder auf sie reagierte. Hatte ich sie nicht auch instinktiv beschützen wollen? Bevor ich sie töten wollte…
Aber war das Mädchen krank?
Es war schwer zu beurteilen – sie sah so delikat aus mit ihrer transparenten Haut… Dann bemerkte ich, dass ich mich auch um sie sorgte, genau wie dieser dämliche Junge, und ich zwang mich, nicht über ihre Gesundheit nachzudenken.
Abgesehen davon mochte ich es nicht, sie durch Mikes Gedanken zu beobachten. Also wechselte ich zu Jessicas und schaute genau zu während die drei sich einen Tisch aussuchten. Glücklicherweise setzen sie sich zu Jessicas üblicher Gesellschaft an einen der ersten Tische des Raumes. Nicht in Windrichtung, genau wie Alice versprochen hatte.
Alice stieß mich mit ihrem Ellenbogen an. Sie wird bald herübersehen. Benimm dich menschlich.
Hinter meinem Grinsen biss ich die Zähne zusammen.
„Beruhig dich, Edward,“ sagte Emmett. „Mal ehrlich. Dann tötest du halt einen Menschen. Das ist wohl kaum das Ende der Welt.“
„Wer weiß,“ murmelte ich.
Emmett lachte. „Du musst lernen über Dinge hinwegzukommen. Wie ich. Die Ewigkeit ist eine lange Zeit um in Schuldgefühlen zu versinken.“
Genau in dem Moment, schleuderte Alice eine kleinere Handvoll eis, die sie versteckt hatte, in Emmetts unerwartetes Gesicht.
Er blinzelte überrascht und dann grinste er in Erwartung.
„Du hast es nicht anders gewollt,“ sagte er als er sich vorbeugte und seine schneebedeckten Haare in ihre Richtung schüttelte. Der Schnee, der in dem warmen Raum bereits zu schmelzen begann, flog in einem dicken Schauer aus Wasser und Eis aus seinen Haaren.
„Iiih!“ kreischte Rosalie, als sie und Alice vor den Tropfen zurückwichen.
Alice lachte und wir alle stimmten mit ein. Ich konnte in Alice Gedanken sehen wie sie diesen perfekten Moment dirigiert hatte und ich wusste, dass das Mädchen – ich sollte aufhören auf diese Art an sie zu denken, als wäre sie das einzige Mädchen auf der Welt – dass Bella uns zusah wie wir lachten und spielten, wir sahen so glücklich und menschlich und unrealistisch ideal aus wie ein Norman Rockwell Gemälde.
Alice lachte weiter und hielt ihr Tablett als Schild vor ihr Gesicht. Das Mädchen – Bella musste immer noch zu uns herüber sehen.
…starrt wieder zu den Cullens, dachte jemand und erregte meine Aufmerksamkeit.
Automatisch reagierte ich auf diesen unbeabsichtigten Ruf, und bemerkte, als meine Augen ihr Ziel fanden, dass ich die Stimme kannte – Ich hatte ihr heute schon so oft zugehört.
Aber meine Augen glitten an Jessica vorbei, zu dem durchdringenden Blick des Mädchens.
Schnell senkte sie ihren Blick und versteckte sich wieder hinter ihren dicken Haaren.
Was dachte sie? Die Frustration wurde mit der Zeit immer größer anstatt abzustumpfen. Ich versuchte – unsicher darüber was ich da tat, da ich es nie zuvor getan hatte – mit meinen Gedanken die Stille um sie herum zu erforschen. Meine Gabe war immer ganz natürlich zu mir gekommen, ohne dass ich danach fragen musste; ich musste nie daran arbeiten. Aber jetzt konzentrierte ich mich um das Schild zu durchbrechen, dass sie umgab.
Nichts als Stille.
Was hat sie nur an sich? Dachte Jessica und spiegelte meine eigene Frustration wieder.
„Edward Cullen starrt dich an,“ flüsterte sie in dem Swan-Mädchen ins Ohr und kicherte. In ihrem Ton lag kein Anzeichen ihrer Eifersucht. Jessica schien gut darin zu sein Freundschaften vorzutäuschen.
Ich lauschte angestrengt auf die Antwort des Mädchens.
„Er sieht aber nicht sauer aus, oder?“ flüsterte sie zurück.
Also hatte sie meine wilde Reaktion letzte Woche bemerkt. Natürlich hatte sie das.
Die Frage verwirrte Jessica. Ich sah mein Gesicht in ihren Gedanken als sie meinen Ausdruck überprüfte, aber ich traf nicht ihren Blick. Ich konzentrierte mich immer noch auf das Mädchen und versuchte irgendetwas zu hören. Meine starke Konzentration schien nicht zu helfen.
„Nein,“ teilte ihr Jess mit und ich wusste, dass sie sich wünschte, sie hätte ja sagen können – wie mein Blick sie wurmte – aber davon war keine Spur in ihrer Stimme. „Wieso sollte er?“
„Ich glaube, er kann mich nicht leiden,“ flüsterte das Mädchen zurück und legte ihren Kopf auf ihren Arm als wäre sie plötzlich müde. Ich versuchte die Bewegung zu verstehen aber ich konnte nur raten. Vielleicht war sie müde.
„Die Cullens können niemanden leiden,“ versicherte ihr Jess. „Naja, eigentlich beachten sie niemanden genug um ihn leiden zu können.“ Jedenfalls bis jetzt nicht. Ihre Gedanken waren ein klagendes grummeln. „Obwohl – er schaut dich immer noch an.“
„Hör auf, ihn anzugucken,“ sagte das Mädchen ängstlich und hob den Kopf von ihrem Arm um sicherzugehen, dass Jessica ihrer Bitte nachkam.
Jessica kicherte, tat aber was ihr gesagt wurde.
Für den Rest der Stunde sah das Mädchen nicht mehr von ihrem Tisch auf. Ich dachte – obwohl ich natürlich nicht sicher sein konnte – dass es Absicht war. Es wirkte so als ob sie zu mir herüber sehen wollte. Ihr Körper würde sich leicht in meine Richtung bewegen, ihr Kinn würde sich drehen, und dann würde sie sich dabei erwischen, tief einatmen und stur zu demjenigen starren der gerade sprach.
Ich ignorierte den Großteil der Gedanken um sie herum, da sie im Moment nicht von ihr handelten. Mike Newton plante eine Schneeballschlacht nach der Schule auf dem Parkplatz und bemerkte nicht, dass der Schnee sich in Regen verwandelt hatte. Das rieseln der Schneeflocken auf dem Dach war zu dem üblichen trommeln von Regentropfen geworden. Konnte er die Veränderung wirklich nicht hören? Für mich hörte es sich sehr laut an.
Als die Mittagspause zu Ende ging, blieb ich auf meinem Stuhl sitzen. Die Menschen strömten hinaus und ich erwischte mich dabei wie ich versuchte ihre Schritte von denen der anderen zu unterscheiden, als ob da etwas Wichtiges oder Unnormales an ihnen wäre. Wie dumm.
Meine Familie machte auch keine Anstalten sich zu bewegen. Sie warteten ab, was ich tun würde.
Würde ich in den Klassenraum gehen, mich neben das Mädchen setzen, wo ich den starken Duft ihres Blutes riechen und die Wärme ihres Pulses in der Luft auf meiner Haut spüren konnte? War ich stark genug dafür? Oder hatte ich genug für heute?
„Ich… denke es ist okay,“ sagte Alice zögernd. „Dein Geist ist bestimmt. Ich denke du überstehst die Stunde.“
Aber Alice wusste nur zu gut wie schnell ein Geist sich ändern konnte.
„Warum das Glück herausfordern, Edward?“ fragte Jasper. Er wollte sich nicht selbstgefällig fühlen, weil ich jetzt der Schwache war, aber ich konnte hören, dass er es ein bisschen tat. „Geh nach Hause. Geh es langsam an.“
„Was ist schon groß dabei?“ wiedersprach Emmett. „Entweder er tötet sie oder eben nicht. So oder so muss er es hinter sich bringen.“
„Ich will noch nicht wieder umziehen,“ beschwerte sich Rosalie. „Ich will nicht von vorn anfangen. Wir sind fast fertig mit der High School Emmett. Endlich.“
Ich war hin und hergerissen in meiner Entscheidung. Ich wollte, wollte wirklich dem Problem gegenübertreten, statt schon wieder davon zu laufen. Aber ich wollte auch nicht zu weit gehen. Es war ein Fehler von Jasper letzte Woche zur Schule zu gehen obwohl er so lange nicht auf der Jagd gewesen war; war das hier jetzt ein genauso sinnloser Fehler?
Ich wollte meine Familie nicht entwurzeln. Niemand von ihnen würde mir dafür danken.
Aber ich wollte in meinen Biologiekurs gehen. Ich bemerkte, dass ich ihr Gesicht wiedersehen wollte.
Das war es das mich meine Entscheidung treffen lies. Dieses Merkwürdige Verlangen. Ich war wütend auf mich weil ich so fühlte. Hatte ich mir nicht geschworen, dass die Stille der Gedanken dieses Mädchens nicht unnötigerweise mein Interesse wecken würde? Und hier stand ich nun, vollkommen unnötig interessiert.
Ich wollte wissen, was sie dachte. Ihr Kopf war verschlossen, aber ihre Augen waren geöffnet. Vielleicht konnte ich sie lesen.
„Nein, Rose, ich glaube wirklich, dass es ok ist,“ sagte Alice. „Es… wird beständiger. Ich bin mir zu 93% sicher, dass nichts Schlimmes passieren wird, wenn er in seinen Biologiekurs geht.“ Sie sah mich neugierig an, wunderte sich, welche Veränderung in meinen Gedanken ihre Zukunftsvision sicherer gemacht hatte.
Würde Neugierde ausreichen um Bella Swan am Leben zu erhalten?
Emmett hatte irgendwie recht – warum es nicht einfach hinter sich bringen, so oder so? Ich würd der Versuchung gegenübertreten.
„Zum Unterricht, also,“ ordnete ich an und erhob mich von meinem Platz. Ich wandte mich ab und verließ die Cafeteria ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich konnte Alices sorgen hören, Jaspers Tadel, Emmetts Anerkennung und Rosalies Verärgerung.
Vor der Tür des Klassenraumes atmete ich ein letztes Mal tief ein und dann hielt ich die Luft an, während ich den kleinen warmen Raum betrat.
Ich war nicht zu spät. Mr. Banner rüstete sich noch für den bevorstehenden Unterricht. Das Mädchen saß an meinem – an unserem Tisch, den Kopf gesenkt und starrte auf den Ordner den sie vollkritzelte. Ich begutachtete die Zeichnung als ich näherkam, sogar interessiert an dieser trivialen Kreation ihres Geistes, aber es war nichtssagend. Nur ein wiederholtes kritzeln von Kringel zu Kringel. Vielleicht konzentrierte sie sich gar nicht auf das Muster, sondern dachte an etwas anderes?
Ich zog meinen Stuhl unnötig grob zurück und ließ ihn über das Linoleum kratzen; Menschen fühlten sich wohler wenn ein Geräusch das Erscheinen von jemandem ankündigte.
Ich wusste, dass sie das Geräusch gehört hatte; sie sah nicht auf, aber ihre Hand ließ einen Kringel in der Zeichnung aus und machte sie unsymmetrisch.
Warum sah sie nicht auf? Vielleicht hatte sie Angst. Ich musste sichergehen, dass sie einen anderen Eindruck von mir hatte, wenn sie später ging. Musste sie glauben machen, dass sie sich alles nur eingebildet hatte.
„Hallo,“ sagte ich mit der ruhigen Stimme die ich benutze, wenn ich wollte, dass die Menschen sich in meiner Gegenwart wohlfühlten und formte ein freundliches Lächeln mit meinen Lippen, das keinen meiner Zähne entblößte.